„Anders handeln“ – so lautet das Jahresthema des Kirchenkreises Nordfriesland für 2019. In unseren 62 Kirchengemeinden, in unserer Diakonischen Arbeit und unseren Bildungseinrichtungen in Nordfriesland stellen wir uns der Frage: „Wo wollen wir, wo müssen wir anders handeln?“
Zunächst: Das Thema liegt in der Luft. Die Europawahl im Mai 2019 hat gezeigt, dass sich etwas ändern muss. Die alten Parteien wurden abgewatscht, die neuen, die anderes Handeln fordern, haben an Stimmen gewonnen. Immer mehr Menschen in Europa wollen, das anders gehandelt wird. Weiter so wie bisher geht nicht mehr. Anders handeln ja, aber wie anders? Und in welche Richtung?
Die Alternative ist keine Alternative
Anders handeln wie es die „Alternative für Deutschland“ und die anderen Rechten in Europa fordern? Indem jeder für sich selbst sorgt? Indem Menschen sich verschließen, auf sich selbst konzentrieren, „our land first“? Durch Ausgrenzung und Abschottung? Protektionismus und Zölle? Mauern und Festung Europa? Oder besser doch durch Öffnung, im Zusammenspiel aller Nationen, durch die Wahrnehmung der gemeinsamen Verantwortung aller Nationen und gesellschaftlichen Akteure? Nicht indem wir uns verschließen vor den großen gesellschaftlichen Herausforderungen, sondern indem wir unsere Augen aufmachen, die Aufgaben wach und scharf in den Blick nehmen und Lösungen suchen – auch wenn es keine einfachen Lösungen gibt!
Leben in der Spannung
Ich denke, als wache Zeitgenossen und Christen kommen wir um diese Grundsatzfrage nicht herum. Christsein heißt auch politisch zu sein. Vor allem verantwortlich zu handeln, anders zu handeln. Mit den Entscheidungen, die wir täglich treffen müssen, liegen wir mitten drin in den Spannungsfeldern und Herausforderungen unserer Gesellschaft. In der Spannung von Ökonomie und Ökologie, von Eigenwohl und Gemeinwohl, von gewinnorientiertem Wirtschaften und sozialem Handeln, von Tradition und Innovation, von regionalen und globalen Entwicklungen. Ich habe dazu keine fertigen Antworten, aber die Fragen lassen mich nicht los: Welche Kleidung kaufe ich? Wie wurde sie hergestellt? Wie gestalte ich meinen Urlaub? Benutze ich das Flugzeug, das Auto oder das Fahrrad? Wofür engagiere ich mich?
Ja, wir müssen anders handeln
Mit unserem Jahresthema sagen wir: Ja, wir müssen anders handeln. Zum einen, weil dieses Thema in der Luft liegt. Und zum anderen, weil das „anders handeln“ ein Grundanliegen unseres christlichen Glaubens ist. „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe!“, sagte Jesus zu Beginn seines Wirkens (Matthäus 3,2). Immer wieder setzte er mit seinem Handeln Zeichen, dass anderes Handeln möglich ist. Gegen die verbreitete Haltung der Alternativlosigkeit setzte er die Haltung des Glaubens, dass bei Gott „alle Dinge möglich sind“ (Matthäus 19,26), weil sich Glaubende nicht an die Realität des Faktischen binden, sondern die Vision einer besseren Zukunft, der Zukunft Gottes, vor Augen haben.
Resignation ist der Christen Sache nicht
Darum meine ich, dass Resignation nicht unsere Sache ist. Ein naiver Weltverbesserungsoptimismus auch nicht. Sondern: Ich will Zeichen setzen für meinen Glauben an eine bessere Zukunft. Jeder Schritt zählt. Manchmal gelingt es mir, mich meiner eigenen Zukunftshoffnung entsprechend zu verhalten, oft handle ich im Widerspruch zu ihr. So ist das – in diesem Sinne bin ich ganz realistisch. Und darum ist mir noch ein weiterer Aspekt meines Glaubens wichtig, auf den ich durch den Soziologen Hartmut Rosa aufmerksam geworden bin[1]: Das Wechselspiel von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit.
An Gottes Segen ist alles gelegen
Für eine bessere Zukunft müssen wir einerseits alles Menschen Mögliche tun, anders handeln, die Schöpfung bewahren und auf das Wohl aller bedacht sein. Aber gleichzeitig wissen wir um die Unverfügbarkeit und Grenzen des Machbaren. Wir sagen: „An Gottes Segen ist alles gelegen.“ Nein, das verstehe ich nicht nur als Spruch oder Ausrede für meine eigene Unzulänglichkeit. Ich will damit auch nicht dem Fatalismus oder der „alles-egal-Einstellung“ das Wort reden. Im Gegenteil: Das Wissen um das Wechselspiel von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit ist für mich die Voraussetzung, anders zu handeln. Denn wenn Menschen sich alles verfügbar machen wollen, alles wissen, alles erreichen, alles erobern, alles beherrschen und alles zu nutzen machen wollen, zerstören sie, was das Leben reich macht. Wenn alles machbar und berechenbar ist, gibt es keine Überraschungen mehr, kein Staunen. Wenn alles in der eigenen Hand liegt, wird nichts mehr als Geschenk wahrgenommen. Wenn Menschen im Machbarkeitswahn nur noch sagen: ich kann, ich will, ich mach – wird jeder Rückschlag zur existentiellen Krise. Wenn nur Erfolg zählt, bleibt Freude an dem, was da ist, auf der Strecke. „Eine Welt, die vollständig gewusst, geplant und beherrscht wäre, ist eine tote Welt“ (H. Rosa), eine unbewegliche Welt, in der kein anderes Handeln möglich ist.
Das Leben vollzieht sich als Wechselspiel
Doch das Leben vollzieht sich als Wechselspiel zwischen dem, was uns verfügbar ist, und dem, was uns unverfügbar bleibt. Es ist das Wechselspiel zwischen eigenem Tun und Geschehen-Lassen, zupacken und loslassen, Erfahrung von gelingen und nicht gelingen. Wer diesem Wechselspiel vertraut, kann anders handeln. Er sieht Entwicklungsmöglichkeiten, wo andere nur Lähmung, Mangel und Stillstand sehen. Wer nicht nur das Verfügbare, sondern auch das Unverfügbare im Blick hat, nicht nur auf sein eigenes, sondern auch auf Gottes Wirken vertraut, nimmt wahr, was geworden ist und lebt gleichzeitig in der Hoffnung, was werden kann.
Auch in diesem Sinne möchte ich anders handeln, indem ich zupacke und meine Verantwortung in die Hand nehme. Und gleichzeitig meine Hände öffne für das, was mir das Leben schenkt.
Jürgen Jessen-Thiesen
[1] Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Residenz-Verlag, 2. Auflage 2018