Keitum – „St. Pauli und Sylt haben viel gemeinsam“ – mit dieser gewagten und nicht ganz ernst gemeinten These begann Sighard Wilm seine Lesung in der St.-Severin-Kirche. Zum ersten Mal stellte er hier sein Buch „St. Pauli – meine Freiheit“ vor, das im März im Claudius-Verlag erschienen ist. „Eine fromme und freche Freiheitserklärung“, so beschreibt es der Verlag.
Sigard Wilm ist seit vielen Jahren Pastor auf St. Pauli. Und schon beim ersten Abschnitt seiner Lesung wurde deutlich, dass der Seelsorger mit allen Sinnen durch seinen Kiez geht. Die Gerüche, die Menschen, der Rummel, die Not – auf St. Pauli gibt es von all dem viel. Und dennoch: Es sind die Ambivalenzen, die das Leben dort so spannend machen: Da gibt es viel Rotlicht, aber auch viel Blaulicht. Es gibt Prominente, und es gibt Gestrandete. Es gibt sehr Arme, es gibt sehr Reiche. Sie alle kommen in der Kirche zusammen und feiern dort, so mag es die Gemeinde am liebsten, einen ganz traditionellen Gottesdienst.
Humanitäre Sofort-Hilfe für Geflüchtete
„Berühmt“ geworden war der Pastor während der Flüchtlingskrise. 300 Menschen strandeten in Hamburg und fielen durch die Ritzen des Sozialsystems. Sie sollten sich ausweisen, bevor ihnen Versorgung zustünde. Und weil viele das nicht konnten, drohten ihnen Hunger und Unterkühlung. „Als Kirche schauen wir aber nicht zuerst in den Pass, wir schauen zuerst auf den Menschen“, sagte Wilm. Und ohne es richtig beschlossen oder bis zum Ende durchdacht zu haben, öffnete er das Gotteshaus, und mehr als 100 Heimatlose fanden hier ein Dach über dem Kopf, gute Worte, und Dank der Mithilfe Vieler bekamen sie auch etwas zu essen. „Das hat mich damals tief bewegt“, so Sighard Wilm. „Wir improvisierten im freien Fall und fühlten uns doch getragen.“
Eine bunte Familie
„Ich habe die Hälfte des Tages Überraschung“, so der Pastor. Denn immer wieder stünden Menschen vor seiner Tür, die unaufschiebbar Hilfe brauchen. Sie wegzuschicken oder wegzudelegieren sei für ihn nie eine Option gewesen. In seinem Buch erzählt er viele Geschichten. Er erzählt auch von sich und seiner eigenen Geschichte: Aufgewachsen auf dem Dorf in einer sehr frommen Familie, habe er sich nie vorstellen können, einmal ausgerechnet in St. Pauli zu landen. Heute ist verheiratet mit einem Mann, und das Paar hat drei Pflegekinder aus unterschiedlichen Kulturen mit unterschiedlichen Religionen. „Wir sind eine sehr bunte Familie“, sagte er und lächelte dankbar.
Und immer zählt der Mensch
Was Sylt und St. Pauli verbindet, bedarf eines zweiten Blicks: An beiden Orten gibt es viel nackte Haut. Es gibt an beiden Orten sehr viele Tagestouristen, die sich eine kleine Auszeit gönnen und dabei nicht selten über die Stränge schlagen. Beide Orte werden oft klischeehaft wahrgenommen, sind aber im Innern voller Ambivalenzen. Und hier wie dort ist es der Mensch, der zählt, hier wie dort versammeln sich in den Kirchen Reiche und Arme, Promis und Gestrandete – auch wenn letztere auf Sylt sicher andere Hintergründe haben als die auf St. Pauli.
„St. Pauli – meine Freiheit“ hat 224 Seiten, ist als gebundenes Buch erschienen und kostet 20 Euro. „Freiheit, darunter verstehen viele, dass sie tun dürfen, worauf sie Lust haben“, sagte Sighard Wilm. „Vom christlichen Glauben herkommend bedeutet es aber, Menschen aus Ängsten und Abhängigkeiten herauszuführen.“
ISBN: 978-3-532-62849-2